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Systemische Praxis Karlsruhe

Nichts ist sopraktisch wie eine gute Theorie

Fallen wir mit einer Zumutung ins Haus: Systemisches Denken gibt es nicht. Nirgends liegt, steht oder fliegt systemisches Denken. Es gibt Menschen, die systemisch denken. Oder besser: Es gibt Menschen, die sich für systemisch denkend halten oder als systemisch Denkende beobachtet werden. Weil das sehr viele sind, und weil all die systemisch Denkenden sehr unterschiedlich systemisch denken, werden wir hier die Sache nicht auf den Punkt bringen können. Kurz: Die Beantwortung der Frage „Was ist systemisches Denken“ ist nicht beantwortbar.

Diese Schwierigkeit bringt uns aber doch gleich zu einer systemischen Idee, die von den meisten systemisch Denkenden akzeptiert wird: „Es gibt keine zuverlässigen Informationen über die Dinge an sich“. Aussagen über Dinge sind keine Informationen über Dinge, sondern Informationen über Systeme, die Dinge für Dinge halten. Wir sprechen hier jetzt absichtlich nicht von „Menschen“, sondern von „Systemen“, weil nicht nur Menschen Dinge für Dinge halten, sondern auch Systeme, die nicht in erster Linie aus Menschen bestehen. Später werden wir erklären, von welchen Systemtypen die Rede sein soll.

Dass wir hier nun schon munter über systemisches Denken plaudern, soll die Aussage „Das systemische Denken gibt es nicht“ keineswegs unglaubwürdig machen. Wir plaudern eigentlich auch gar nicht über „systemisches Denken“, sondern über das, was wir für systemisches Denken halten. Damit haben wir „systemisches Denken“ nicht als etwas benutzt, was es wirklich gibt, sondern wir haben darzustellen versucht, was wir mit „systemischem Denken“ erklären wollen. Mehr können wir nicht tun. Wir können nur von uns reden, von dem, was wir für relevant halten. Diese systemische Grundannahme wird im systemischen Jargon „Konstruktivismus“ genannt.

Jetzt haben wir schon etwas mehr Boden unter den Füßen. Wir haben einen Begriff, mit dem wir arbeiten können: Konstruktivismus! Dieses etwas klobige Wort ist zum Inbegriff des modernen systemischen Denkens geworden. „Konstruktivismus“ bedeutet, dass wir keinen Zugang zu einer wirklichen Wirklichkeit haben, sondern nur zu unseren Vorstellungen (Konstrukten) von Wirklichkeit.

 Und nur damit können wir arbeiten: Mit unseren Vorstellungen, Ideen, Konzepten, Annahmen, Glaubenswelten. Wesentlicher Bestandteil des systemischen Denkens ist also der Konstruktivismus.

In der systemischen Beratung ist die Idee vom Konstruktivismus ein mächtiges Werkzeug. Systemisch Beratende versuchen nicht, mit ihren Klienten Lösungen zu finden. Sie begleiten sie bei dem Prozess der Erfindung. Die Lösung wird erfunden, nicht gefunden. Wenn man sie finden könnte, wäre sie ja schon da, sie wäre Teil einer Wirklichkeit und würde sich irgendwo versteckt halten. Systemisch Denkende glauben, dass es die Lösung per se gar nicht gibt, sondern dass sie erst dann da ist, nachdem sie konstruiert wurde. Genaugenommen entsteht die Lösung mit dem Erfinden. Das heißt: Das Erfinden einer Lösung und die Lösung selber fallen zusammen, sie sind ein Sachverhalt. Auf den ersten Blick widerspricht dieser Vorgang dem gesunden Menschenverstand.

Auch die konstruierte Lösung ist nicht eine „wirkliche“ oder objektive Lösung, sondern etwas, was ihre Erfinder bzw. Konstrukteure als Lösung ansehen. Der Unterschied zwischen Finden und Erfinden von Lösungen sieht so aus: Das Finden von Lösungen würde hartnäckiges Suchen und Disziplin erfordern. Das Erfinden von Lösungen aktiviert Kreativität. Das ist das, was systemisch Beratende in erster Linie tun: Sie fördern Kreativität. Sie unterstützen das Erfinden.

Die Sache mit dem Konstruktivismus hat einen Haken. Nicht nur Lösungen, Ansichten, Sachverhalte etc. pp. sind erfunden, sondern auch der Konstruktivismus selbst. Die Grundannahmen, die der Konstruktivismus hervorbringt, sind auch für ihn selbst von Belang. Diese Selbstbezüglichkeit kann zu Problemen führen, weil sie in eine Endlosschleife mündet. Natürlich hat das systemische Denken auch zu diesem Problem einiges zu sagen. Das aber soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Vielmehr soll es uns zu einem weiteren systemischen Gedanken begleiten.

Wenn sich der Konstruktivismus auf sich selbst bezieht, haben wir es mit einer zweiten Ebene zu tun. Die erste Ebene betrifft den Konstruktivismus. Die zweite Ebene betrifft den Konstruktivismus des Konstruktivismus. Wir könnten hier vom Konstruktivismus zweiter Ordnung sprechen . Der Begriff „Zweite Ordnung“ hat im Systemischen großes Gewicht. Angefangen hat das alles mit dem Begriff „Kybernetik 2. Ordnung“. Der Kybernetiker Heinz von Foerster hat diese Begriffskombination erfunden (Second-Order Cybernetics) und dem Systemischen Denken zugeführt. Die Kybernetik beschäftigt sich mit der Steuerung von Rückkopplungen. Ein Thermostat steuert eine Heizanlage. Der Thermostat misst die Raumtemperatur und vergleicht sie mit dem eingestellten Sollwert. Unterschreitet die Temperatur den Wert, veranlasst der Thermostat das Hochfahren der Heizung. Ist die Temperatur überschritten, wird die Heizung zurückgefahren. „Wie allgemeinen bekannt ist, spricht man von Kybernetik, wenn Effektoren. wie z.B. ein Motor, eine Maschine, unsere Muskeln usw. mit einem sensorischen Organ verbunden sind, das mit seinen Signalen auf die Effektoren zurückwirkt.“ Die Kybernetik zweiter Ordnung bezieht sich auf Systeme, die ihre eigenen Vorgänge steuern. Lebende Systeme „funktionieren“ nach dem Prinzip der Kybernetik zweiter Ordnung, sie steuern sich vollkommen selbst.

 Die Kybernetik 2. Ordnung wird oft mit dem Begriff „Beobachtung 2. Ordnung“ in Zusammenhang gebracht. Zum den Begriffen „Beobachtung“ und „Beobachtung zweiter Ordnung“ werden wir später noch einiges zu sagen haben. Zunächst aber wollen wir zu einem Begriff kommen, der sich mit der Selbststeuerung lebender Systeme beschäftigt. Solche Systeme werden „Autopoietische Systeme“ genannt.

Damit haben wir nun die nächste Stufe im systemischen Sprachlabyrinth gezündet. Der Begriff „Autopoiese“ lässt sich nicht so leicht übersetzen. Der Neurobiologe Humberto Maturana hat diesen Begriff erfunden. Er bedeutet soviel wie „Selbstschöpfung und Selbsterhaltung“. Mit dieser Kombination (Selbstschöpfung und Selbsterhaltung) finden wir genau das vor, was mit dem Begriff „Kybernetik 2. Ordnung“ schon angedeutet wurde: Autopoietische Systeme regeln sich vollkommen selbst. Am Beispiel lebender Systeme lässt sich das leicht nachvollziehen. Niemand von außen stellt die Körpertemperatur eines lebenden Systems auf 37 Grad ein. Das macht das System selbst. Und es überwacht selbst seine eigenen Vorgaben. Die Zellreproduktion wird vom System selbst übernommen. Es erschafft sich sozusagen selbst aus den Elementen (in diesem Fall „Zellen“), aus denen es besteht. Wir haben es hier mit einer einzigartigen Kombination zu tun: Das Produkt (Lebewesen) und der Konstrukteur des Produktes (Lebewesen) fallen zusammen. Der Erbauer erbaut sich selbst. Es kann einem bei dieser Vorstellung schwindlig werden, weil sich die Logik im Kreise dreht: Was war zuerst da, der Erbauer oder das Erbaute?

Ein autopoietisches System bezieht sich nur (!) auf sich selbst. Es ist operativ geschlossen. Das bedeutet, dass Reize von außen keine direkten Veränderungen im System bewirken können. Das System selbst entscheidet, ob es sich von äußeren Reizen anregen lassen will oder nicht. Im systemischen Jargon ist dann von „Stören“, „Verstören“ oder „Irritation“ die Rede. Bisweilen stolpern wir in diesem Zusammenhang auch über den Zungenbrecher „Perturbation“. Machen wir ein Beispiel: Am Straßenrand steht ein roter Ferrari mit superbreiten Reifen und einem beeindruckenden Heckspoiler. Als Fritz Meier an dem Ferrari vorbei kommt, schlägt sein Herz sofort höher, seine Augen glänzen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Eine Stunde später kommt Lieschen Müller vorbei. Sie interessiert sich überhaupt nicht für schnelle Autos. Ihr Blick streift zwar den Ferrari, aber sie nimmt ihn nicht bewusst wahr. Ihr Herz bleibt ruhig. Der Ferrari selber hat keinen direkten Einfluss auf Meier und Müller. Er steht einfach nur da. Meier und Müller entscheiden selbst, ob sie sich stören lassen wollen oder nicht.

 Wenn Sie dieser Sache etwas tiefer auf den Grund gehen wollen, geben wir Ihnen einen kleinen Forschungsauftrag mit auf den Weg: Beobachten Sie bitte in der Stadt gemeinsam einkaufende Paare. Registrieren Sie bitte, wer von beiden (Mann oder Frau) sich am häufigsten durch T-Shirt-Stände vor den Geschäften irritieren lässt und wen diese Utensilien ziemlich kalt lassen. Berücksichtigen Sie dabei bitte, dass Ausnahmen die Regel bestätigen.

Spaß beiseite. Die Sache mit der (Ver-)Störung ist von weit reichender Bedeutung. Es geht nicht einfach nur darum, dass sich Systeme von schnellen Autos, T-Shirt-Ständen oder Menschen irritieren lassen oder nicht. Irritationen finden ständig statt. Nur darüber kommt es zu Außenkontakten, nur darüber wird gelernt.

Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann beschrieb mit dem Begriff „Strukturelle Kopplung“ die Art und Weise, wie sich unterschiedliche Systemtypen gegenseitig beeinflussen. Bevor wir diesen nicht ganz leicht verständlichen Sachverhalt näher erläutern, wollen wir einen Augenblick bei Luhmann verweilen, weil er die systemische Welt der letzten dreißig Jahre so stark beeinflusste, dass man schon fast von einem intellektuellen Putsch sprechen kann. In unermüdlichem Fleiß hat Luhmann die gesamte Soziologie systemisch aufgerollt. Dabei hat er auf zahlreiche Theorieriesen zurückgegriffen, deren Ideen teilweise übernommen und zu großen Teilen „umgebaut“ – nicht immer zu deren Freude. Der Systemtheoretiker Talcott Parsons, die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela, der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster, der Philosoph und Mathematiker Edmund Husserl, der Psychologe Fritz Heider, der Mathematiker George Spencer Brown, sie und andere lieferten die Impulse, aus denen Luhmann „seine“ Systemtheorie strickte. Dabei interpretierte Luhmann „seine Impulsgeber“ bisweilen außerordentlich großzügig. Die ungewöhnlichen, zum Teil chaotischen und oft in schwer verständlichen Texte haben enorme Diskussionen bewirkt und in der systemischen Welt ein Feuer aus Kreativität entfacht. Wenn man sich mal eingelesen hat, wirken Luhmanns Texte wie erfrischende Provokationen.

 In der Vorstellung Luhmanns gibt es drei unterschiedliche autopoietische Systeme: Lebende, psychische und soziale Systeme. Lebende Systeme bestehen aus Zellen. Sie sind biologisch beobachtbare Systeme wie Menschen, Katzen, Tintenfische etc. Psychische Systeme bestehen aus Gedanken. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen. Schwer verdaulich ist in diesem Zusammenhang, dass lebende, psychische und soziale Systeme keine direkte Verbindung untereinander haben sollen.

Wie die unterschiedlichen Systemtypen (Lebende Systeme, Gedanken und Kommunikationen) zusammenkommen, wird mit dem Begriff „Strukturelle Kopplung beschrieben, und damit nehmen wir diesen Faden wieder auf. Zunächst wurden neben den lebenden auch die psychischen und sozialen Systeme zu autopoietischen Systemen „ernannt“. Während Humberto Maturana den Begriff „Autopoiese“ allein für lebende Systeme reserviert sehen wollte, fand Luhmann den Begriff auch für die anderen Systemtypen interessant. Er hat an dem Begriff lange geschraubt und ihn am Ende so hingebogen, dass er für seine Belange passt. Einer der Gewinne liegt für ihn darin, soziale Systeme von konkreten Menschen zu „befreien“. Die Systemtheorie Luhmanns „funktioniert“ nur dann, wenn Menschen nicht Bestandteile (Elemente) sozialer Systeme sind. Wenn sie deren Bestandteile wären, würden soziale Systeme aus seiner Sicht immer über konkrete Menschen definiert werden müssen. Nun gibt es aber soziale Systeme, die Generationen überdauern. Kirchen zum Beispiel. Dort lassen sich spezifische Kommunikationen beobachten, die sich vor Hunderten von Jahren entwickelt haben und heute immer noch in ähnlicher Form stattfinden, obwohl die Menschen von damals längst tot sind. Luhmanns Konsequenz: Soziale Systeme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen.

Kommunikationen verwirklichen sich über drei Selektionen: Information, Mitteilung, Verstehen. Das Sender-Empfänger-Modell eignet sich nach dieser Idee nicht zur Erklärung von Kommunikation, weil es an Übertragung erinnert. Kommunikation durch Übertragung müsste etwa so funktionieren: Lieschen Müller sagt zu Hugo Meier „Heute ist es kalt“. Hugo Meier empfängt „Heute ist es kalt“. Jetzt hat er „Heute ist es kalt“ und Lieschen Müller hat es nicht mehr- sie hat es ja zu Hugo Meier geschickt. Er kann es aber durchaus zurückschicken, indem er auch „Heute ist es kalt“ sagt. Jetzt hat Lieschen es wieder. Für Luhmann ist das erste „Heute ist es kalt“ keine Information an sich, sondern ein Geräusch. Hugo kann dieses Geräusch irgendwie verarbeiten. Er kann „Heute ist es kalt“ als Information verstehen (dass es eben kalt ist und nicht, dass jemand angerufen hat). Möglicherweise wollte Lieschen mit dem Geräusch, das Hugo als Information verarbeitet hat, eine Mitteilung machen. Etwa „Zieh dich warm an“. Es kann sein, dass Hugo das versteht und seinen dicken Mantel aus dem Schrank holt. Es kann auch sein, dass er es nicht versteht und meint, Lieschen wollte einfach bloß sagen, dass es kalt ist, weil sie einfach nur etwas sagen wollte. Es kann aber auch sein, dass Lieschen tatsächlich nur einfach irgendetwas sagen wollte, um eine Gesprächspause zu überbrücken. Und trotzdem holt Hugo vielleicht seinen Mantel, weil er glaubt, dass Lieschen gemeint hat „Zieh dich warm an“. Lieschen schenkt dem vielleicht keine Bedeutung. Weil sie keine Mitteilung machen wollte, sieht sie keinen Zusammenhang zwischen ihrer Aussage „Heute ist es kalt“ und dem Anziehen des Mantels. Verstehen bedeutet nicht, dass beide verstehen, was der oder die andere „wirklich“ meint. Das kann man nie wirklich wissen. Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man Information und Mitteilung voneinander unterscheiden kann.

 Soziale Systeme sind etwas, an dem Menschen nur indirekt teilhaben. Der Krieg ist zum Beispiel ein soziales System. Der Krieg besteht aber nicht aus Menschen. Nicht daraus, dass irgendwo Männer mit spitzen Stangen, Gewehren und gepanzerten Fahrzeugen sind. Krieg besteht aus spezifischen Kommunikationen.

Der dritte Systemtyp, und daran wollen wir nur kurz verweilen, ist das psychische System. Es besteht im Sinne Luhmanns aus Gedanken. Wir dürfen weitere Merkmale einbeziehen: Gefühle, Erlebnisse usw. Wie im Falle sozialer Systeme Kommunikationen an Kommunikationen anschließen, schließen im Falle psychischer Systeme Gedanken an Gedanken an.

Luhmanns Systemtheorie findet nicht in der „Ding-Vorstellung“ statt, sondern auf der Basis von Unterscheidungen. Die Idee, „Wirklichkeit“ über Unterscheidungen zu konstruieren, hat Luhmann von dem englischen Mathematiker George Spencer Brown übernommen.

Die Theorie Luhmanns funktioniert nicht auf der Basis von Ontologie. Mit Ontologie ist hier die Vorstellung verbunden, dass die Dinge der Welt wirklich da sind, und dass sie unabhängig von den Beobachtern existieren. Wir nennen diese Sicht der Dinge „Naiven Realismus“. Wie wir weiter oben im Zusammenhang mit der Erklärung des Begriffs „Konstruktivismus“ gesehen haben, gibt es durchaus auch andere Vorstellungen. Danach existieren die Dinge nicht unbedingt wirklich, sondern werden in den Köpfen der Beobachter konstruiert. Wir hatten gesehen, dass diese Theorie in sich schwierig ist, weil sie auch für sie selbst gilt und sich dadurch leicht mit Paradoxien infiziert. Außerdem sind mit der Vorstellung von den Köpfen mindestens diese real existent. Luhmann interessiert sich nun nicht für die Frage, ob etwas wirklich existiert oder nicht. Diese Frage ist nicht beantwortbar. Er interessiert sich für die Frage, ob etwas beobachtet wird oder nicht. Beobachten meint hier nicht, dass jemand da sitzt oder steht und etwas außerhalb seiner selbst betrachtet, wie man vorbeifahrende Autos oder spielende Kinder beobachtet. „Beobachten“ steht hier für das Unterscheiden und Bezeichnen. Mit diesem Begriffspaar ist der Geist Spencer Browns aus der Flasche.

Dass Luhmann sehr großzügig mit den Entdeckungen anderer umgeht, haben wir weiter oben erwähnt. Beobachten durch „Unterscheiden und Bezeichnen“ führt Luhmann auf Spencer Brown zurück. Trotz der gravierenden Interpretationsfehler (s.o.) hat er dennoch oder gerade deshalb den wesentlichen Anstoß zur (Wieder-) Enddeckung und Weiterverarbeitung des Spencer Brownschen Kalküls gegeben . Spencer Brown ging es im Wesentlichen um die Unterscheidung von Unterschiedenem und Nicht-Unterschiedenem.

 Der von Spencer Brown inspirierte Luhmann nimmt an, dass etwas nur über Unterscheidungen real wird und nicht durch bloßes Dasein. Wenn wir etwas identifizieren (bezeichnen), haben wir es gleichzeitig von anderem unterschieden. Wir haben also, indem wir etwas identifiziert haben, gleichzeitig etwas ausgeschlossen. So gesehen haben wir es nicht mit Dingen an sich zu tun, sondern mit Differenzen. Wirklichkeit entsteht durch das Treffen einer Unterscheidung und durch das gleichzeitige Bezeichnen einer Seite der Unterscheidung. Felix Lau* macht das so anschaulich: „Ein Beispiel ist der Begriff ‚Mensch’. Für die moralische oder (straf-) rechtliche Beurteilung von Abtreibung stellt sich unter anderen die Frage: Ab wann ist ein Fötus ein Mensch? ….. Man kann das nicht wissen. Man kann sich nur entscheiden und es dann so (oder anders) leben, indem man Abtreibung verbietet (oder gestattet)“

Systemisch Denkende interessieren sich nicht nur für diese rein theoretischen Zusammenhänge, sondern auch und vor allem dafür, welchen „Gebrauchswert“ diese Gedanken für das Leben haben. Uns als systemische Mediatoren interessiert, wie sich diese Ideen für die mediatorische Praxis nutzen lassen.

Welchen Gebrauchswert diese Ideen für das tägliche Leben haben, wird jeder für sich entdecken müssen. Es gibt „Zeugenaussagen“ von denen wir berichten können, und dazu gehören auch unsere eigenen (von denen wir hier lieber nicht berichten). Man kann sich bewusst machen, dass die eigenen Beobachtungen nichts weiter sind als Beobachtungen.

Wenn jemand zur Überzeugung kommt, seine Ehefrau sei ein falsches Luder, gewinnt er damit keine Informationen über seine Ehefrau, sondern lediglich über seine Art und Weise des Beobachtens. Er selbst legt die Kriterien für das „Ludersein“ fest, nicht seine Frau durch ihr Verhalten oder ihr Aussehen oder ihre Aussagen. Er selbst entscheidet sich, seine Frau als Luder zu sehen. Genauso könnte er andere „Eigenschaften“ bezeichnen und damit „Ludereigenschaften“ unberücksichtigt lassen, etwa Attraktivität oder Intelligenz oder Herzlichkeit oder was immer. Andere würden vielleicht das, was er für „Ludereigenschaften“ hält, als besonders wertvolle Kompetenzen ansehen.

Wenn wir etwas bezeichnen, ist potentiell immer auch all das andere da, das wir auch bezeichnen könnten, das wir aber im Augenblick des Bezeichnens unberücksichtigt lassen. Das nicht Berücksichtigte ist in diesem Augenblick schlicht unsichtbar. Ein Autofahrer, der sich von einem anderen Verkehrsteilnehmer geschnitten fühlt, hebt jetzt (in diesem Augenblick der Erregung) voller Zorn den Mittelfinger hoch und provoziert damit den Ärger seines Kontrahenten. In dem Moment des Ärgers ist er sicher, dass sein Kontrahent ein Idiot ist. Zehn Minuten später mag er sich über sich selbst ärgern und sein Aufbrausen für völlig unangemessen halten. Hätte er seinen Kontrahenten bei einer Party kennen gelernt, würde er sich vielleicht gerne mit ihm zum Bier verabreden, weil er in ihm einen klugen und bierfesten Gesprächspartner sähe.

Ob das Verweisen auf etwas und das gleichzeitige Ausschließen von dem, auf das nicht aktuell verwiesen wird, kurzfristig geschieht oder über lange Zeit aufrechterhalten wird: In beiden Fällen wird beobachtet bzw. unterschieden und bezeichnet. Der zornige Autofahrer verändert binnen Minuten seine Sichtweise. Andere sind über lange Strecken oder gar ihr Leben lang davon überzeugt, dass dieses so ist und nicht anders. Dass Ausländer vielleicht eine geringere Daseinsberechtigung hätten als Einheimische. Die Vorstellung, selber besonders groß zu sein, selber dumm, schlecht, unwert oder was immer zu sein, spiegelt immer das wider, was gesehen und was nicht gesehen wird. Niemals deutet es auf etwas hin, das unterschiedslos einfach da ist.

Besonders anschaulich wird dieser Sachverhalt an Konflikten zwischen Systemen. Wenn zwei Menschen sich streiten, sind beide in der Regel von der Richtigkeit ihrer Sichtweise überzeugt, während die Sichtweise der Gegenseite als absurd, dumm, falsch etc. beobachtet wird. Systemisch gesehen: Jeder sieht nur seinen Ausschnitt, nur das, was er gerade bezeichnet. Das Andere ist unsichtbar. Systemische Mediatoren wissen das. Sie versuchen nicht, eine der Streitparteien von der Falschheit ihrer Sichtweise zu überzeugen. Sie versuchen, beide zur Berücksichtigung des Kontextes einzuladen. Zwar wird es nicht möglich sein, den Ausschnitt des Kontrahenten so zu sehen, wie er ihn sieht. Es wird aber sichtbar werden, dass es mehr gibt als nur das aktuell Bezeichnete, wenn beide bereit sind, die „Grenze zu kreuzen“.

© Dieter Salomon

*Felix Lau, Die Form der Paradoxie, Heidelberg 2012


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